J.J. Woltjer

Das Bild zerschmettert?

(1972)

Übersetzung aus dem Niederländischen: Dennis van de Merwe

Bearbeitung der Übersetzung : Maria Elisabeth Weissenböck, Wien

J.J. Woltjer studierte Geschichte an der Freien Universität Amsterdam und an der Reichsuniversität Leiden. Von 1950 bis 1957 war er an der Koninklijke Bibliotheek tätig, seit 1957 arbeitet er an der Universität in Leiden, zuletzt als Professor für niederländische Geschichte des 16. und 17. Jahrhunderts. 1962 promovierte er mit der Dissertation Friesland in Hervormingstijd (Leiden, 1962). Seither hat er in verschiedenen kleineren Studien untersucht, inwiefern diese Forschungsergebnisse für die Geschichte des Aufstandes im Allgemeinen nutzbar gemacht werden können. Davon seien hier De Vredemakers in: S. Groeneveld und H. L. Ph. Leeuwenberg (Hrsg.), De Unie van Utrecht (Den Haag, 1979) und De Politieke betekenis van de Emdense synode in: D. Nauta, J. P. van Dooren und Otto J. de Jong, De synode van Emden, oktober 1571 (Kampen, 1971) genannt. Woltjer ist Mitglied der Redaktionskommission des Biografisch Woordenboek van Nederland, von dem 1979 der erste Teil erschienen ist.

Den hier folgenden Aufsatz hat der Autor  auf dem 1972 in Dordrecht organisierten Symposium zum Gedenken an die Eerste Vrije Statenvergadering im Jahr 1572 vorgetragen.

Es war im Oktober 1939, als Jan Romein seinen berühmten Vortrag über das zerschmetterte Bild hielt [1] . Darin legte er dar, dass je gröer unser Wissen von der Vergangenheit wird, desto undeutlicher und unbeständiger unser allgemeines Bild davon wird, bis schlielich das Bild selbst in einem Nebel von Auffassungen verschwindet. Diese allgemeine Aussage illustrierte er anhand eines Überblicks über die Geschichtsschreibung des niederländischen Aufstandes. Das ist der Grund, warum ich Romeins Rede hier in Erinnerung rufe. Auch das Bild des Aufstandes, meinte er, wurde durch den Fortgang der historischen Forschung desintegriert. Seit Romein dies diagnostisierte, ist fast ein Drittel Jahrhundert vergangen und es lohnt sich zu untersuchen, wie es jetzt um unser Bild vom Aufstand bestellt ist.

Fassen wir zuerst, teilweise Teil an Romein anschlieend, die Entwicklung der Geschichtsschreibung bis 1939 kurz zusammen. Am Anfang war das Bild klar und einfach oder besser gesagt, es gab zwei klare und einfache Bilder. Das eine Bild fasste den Aufstand als einen Kampf für Freiheit auf, libertatis causa , das andere als einen Kampf für die Religion. Damit hier kein Missverständnis aufkommt: diejenigen, die für die Religion, religionis causa , kämpften, kämpften grötenteils nicht für die Religionsfreiheit, sondern für die wahre Religion gegen die verfluchte Abgötterei der papistischen Messe.

Im 19. Jahrhundert öffneten sich anfangs zögernd die Archive. Der niederländische Politiker und Historiker Groen van Prinsterer verrichtete Pionierarbeit mit der Herausgabe der Korrespondenz der Oranier, der Belgier L.P. Gachard folgte mit der Korrespondenz von Philipp II. und Margaretha von Parma. Für das allgemeine Bild aber war die Entstehung des Nationalismus mindestens genauso wichtig. Der niederländische Historiker Robert Fruin beschrieb den niederländischen Aufstand als einen nationalen Aufstand gegen die spanische Vorherrschaft und dies ist bis heute das verbreitetste Bild. Fruin würdigte die Bemühungen von Karl V. und Philipp II., die Staatsführung in den Niederlanden zu modernisieren, wenn nötig auch auf Kosten der Privilegien. Er stellte die Frage, weshalb diese Bemühungen, die in vielen anderen Ländern Erfolg hatten, in den Niederlanden zu einem Fiasko führten. Die Antwort war einfach: die Regierung von Philipp II. war eine fremde, anti-nationale Regierung. Wir können diese nationale Interpretation des Aufstandes als eine Variante des alten Freiheitsmotivs betrachten, eine Variante bei der die verschiedenen Bedenken gegen das Regime Philipps II. unter einem Nenner zusammengefasst wurden: die Zentralisation, der zehnte Pfennig und die Inquisition waren alles Ausdrucksformen des spanischen Volkscharakters; auch wenn z.B. die Zentralisation an sich vorteilhaft war, wurde diese dennoch abgelehnt, sobald sie von fremden, spanischen Kräften durchgeführt wurde, um spanischen Interessen zu dienen und spanische Ideen aufzuzwingen. Die Freiheit wurde gar nicht so sehr von Philipp II. als König bedroht, sondern vom Spanier Philipp II., der in den Niederlanden ein fremdes Element war. Auch für Groen van Prinsterer war der Aufstand zu Beginn ein Kampf für die niederländische Unabhängigkeit, auch wenn er schon bald zu einem Religionskrieg wurde. R.C. Bakhuizen van de Brink [niederländischer Historiker und Essayist, Anm. des Übers.] und Johannes van Vloten [niederländischer Historiker, Anm. des Übers.] betonten mehr den bürgerlichen Charakter des Aufstandes, während die bereits erwähnten Motive in wechselnden Zusammenhängen bei ihnen zurückkehren. Bakhuizen schrieb einen Aufsatz über de beweegredenen van onzen opstand tegen Spanje [die Beweggründe unseres Aufstandes gegen Spanien], in dem er ein äuerst kompliziertes Bild skizzierte, das er selbst damals nicht für publikationsreif hielt. Es wurde erst nach seinem Tod veröffentlicht. Man sieht hier gleichsam Bakhuizens Meinung hinter den Bergen von Material verschwinden, die er selber aufgehäuft hat, merkt Romein dazu an.

Eine ganz eigene Auffassung vertrat W.J.F. Nuyens. Als Katholik empfand er Abneigung gegen die protestantische Vorherrschaft, eine Folge des Aufstandes, als Niederländer empfand er eine Abneigung gegen das spanische Regime. Er fühlte sich katholisch und nicht spanisch, deshalb interessierte er sich für die groe Distanz zwischen vielen katholischen Niederländern und Philipp II.

Zwei belgische Historiker brachten zwei neue Aspekte ins Spiel. Charles Pailard wies auf die Bedeutung der Geldnot der Regierung hin, während Henri Pirenne in seiner groartigen Histoire de Belgique den Einfluss der wirtschaftlichen Entwicklung auf den Verlauf der Ereignisse im Allgemeinen und auf die Verbreitung des Kalvinismus im Besonderen unterstrich. Das Bild wurde noch komplizierter, als H.A. Enno van Gelder die niederländische Situation mit den französischen Bürgerkriegen verglich und P. Geyl die Aufmerksamkeit auf die Ursachen für die Trennung der nördlichen von den südlichen Niederlanden lenkte, bei der strategische Faktoren eine groe Rolle spielten. Romein folgerte aus dieser hier sehr komprimiert wiedergegebenen Entwicklung, dass das Bild des Aufstandes unter Einfluss der fortschreitenden wissenschaftlichen Forschung desintegriert und zunehmend unübersichtlicher geworden war. Auf die Methode, die Romein vorschlug, wollen wir hier nicht eingehen, sondern uns mit der Frage beschäftigen, wie es seit Romein diese Diagnose stellte weitergegangen ist.

Man kann in der Historiographie drei Strömungen unterscheiden: die historisch-materialistische Interpretation, die hauptsächlich von Ausländern vertreten wird, das Werk der belgischen Historiker zur sozialökonomischen Entwicklung und die Richtung Geyl-Rogier. Selten vertreten ist die historisch-materialistische Interpretation. Romein selbst hat den Aufstand in seinem Grundriss der niederländischen Geschichte De Lage Landen , den er zusammen mit seiner Frau [2] geschrieben hat, kurz behandelt. Darin bezeichnet er den Bildersturm als erstes Beispiel für eine bürgerliche Revolution, bei der das Proletariat die Schmutzarbeit für die Bourgeoisie verrichten musste. Der im Aufstand siegreiche Norden trug die Kraft des aufkommenden Kapitalismus in sich, der seine Streitbarkeit vom Kalvinismus herleitete. Im und durch den Aufstand kamen die Regenten, deren Herrschaft sich um 1550 ankündigte, an die Macht. Romein behandelte dieses Thema nur am Rande in einem für die breite Öffentlichkeit geschriebenen Werk, man darf daher seine kurze Darstellung nicht zu kritisch beurteilen.

Der deutsche Emigrant Erich Kuttner schrieb unter schwierigen Bedingungen eine Studie über das Hungerjahr 1566, in der er eine marxistische Analyse des Bildersturms und seiner Folgen versuchte. Der Zusammenhang zwischen der Entwicklung der modernen Industrie und dem Kalvinismus, auf den Pirenne bereits hingewiesen hatte, wurde bei Kuttner besonders hervorgehoben. Er verwendete die Begriffe Revolution und Kontra-Revolution ohne Zögern, um die komplexen Ereignisse zu interpretieren. Es wird leider nicht deutlich, wie er die Ereignisse nach 1567 in dieses Schema einfügen wollte.

Zwei andere Ausländer haben ebenfalls den marxistischen Weg beschritten. Der Russe A.H. Tchistozvonov schrieb ein Buch auf Russisch über die niederländische bürgerliche Revolution des 16. Jahrhunderts. Ich bedauere, dass ich des Russischen nicht mächtig bin und daher dieses Buch nicht lesen konnte, aber die Lektüre des auf Französisch geschriebenen Buches des Ungarn Tibor Wittman hat mich über diesen Verlust hinweg getröstet. Wittmans Buch, das dem Titel zufolge von den flämischen Städten in der Zeit von 1577 bis 1584 handelt, gibt eigentlich beinahe die Geschichte des ganzen Aufstandes wieder [3] . Die Kritik, die Wittman hier an Tchistozvonov und implizit auch an Romein übt, scheint mir sehr vernünftig. Fortwährend warnt er davor, den kapitalistischen Charakter der Niederlande im 16. Jahrhundert nicht zu überschätzen. Natürlich, es gab vor allem in Antwerpen eine sehr moderne kapitalistische Wirtschaft, aber der Widerstand gegen einen hemmungslosen Kapitalismus und der Einfluss dessen, was Wittman das feudale Element des Gewerbes nennt, war vor allem in den radikalen Kreisen in den flämischen Städten stark. Der Aufstand entstand nicht aus dem Widerstand gegen den Feudalismus. Wittmans Buch leidet bedauerlicherweise an der selben Krankheit wie Kuttners Buch. Auch er verwendet den Begriff Revolution sehr undifferenziert.

Das ändert nichts daran, dass die sozialen Spannungen, die durch die schnelle wirtschaftliche Expansion entstanden sind, eine groe Rolle gespielt haben, sowohl beim Ausbruch des Bildersturms als auch in den kritischen Jahren 1577-1585. Es waren vor allem die belgischen Historiker, die in den letzten Dezennien der wirtschaftlichen und sozialen Geschichte des 16. Jahrhunderts viel Aufmerksamkeit schenkten. Ich möchte hier nur die Namen W. Brulez, E. Scholliers und H. van der Wee erwähnen. Sie haben unsere Einsicht in die sozialökonomischen Strukturen und deren verschiedene Entwicklungsstadien sehr vertieft, unser Bild von der Entwicklung der Preise und Löhne verändert. Für diese Historiker war zwar nicht die Problematik des Aufstandes das zentrale Thema, dennoch sind ihre Werke für dessen Interpretation wichtig. Eine gute Zusammenfassung des Letzteren hat Van der Wee 1969 mit seiner Studie über De economie als factor bij het begin van de Opstand in de zuidelijke Nederlanden [4] [Die Wirtschaft als Faktor am Beginn des Aufstandes in den südlichen Niederlanden] vorgelegt . Das spektakuläre Wachstum der niederländischen Wirtschaft führte, laut Van der Wees Aussagen, zu einer geistigen Emanzipation weiter Kreise und diese Emanzipation schuf einen fruchtbaren Nährboden für die Reformation. Ein plötzlicher Einbruch Mitte der sechziger Jahre stellte eine Bedrohung für diesen neuen Wohlstand dar. Dadurch entstand eine Atmosphäre von Unsicherheit, die im Machtvakuum nach dem Abzug Granvelles die Gemüter für die Begeisterung der kalvinistischen Prediger empfänglich machte. Die wirtschaftliche Entwicklung war laut Van der Wee nicht der einzige, aber ein sehr wichtiger Faktor zu Beginn des Aufstandes.

In den Niederlanden selbst beschäftigte man sich mit anderen Themen. Bereits 1930 hatte P. Geyl einen kurzen Artikel über De protestantisering van Noord-Nederland publiziert [5] , in dem er darauf hingewiesen hatte, dass der Protestantismus spontan niemals etwas anderes gewesen wäre als die Religion einer kleinen, fanatischen Gruppe und dass die Mehrheit des nord-niederländischen Volkes ihren katholische Glauben nur unter Druck der Regierung aufgegeben hätte. Unabhängig davon hat L.J. Rogier in seinem groen Werk Geschiedenis van het katholicisme in Noord-Nederland dasselbe behauptet und nachgewiesen, dass, trotz des Drucks von oben zu Gunsten der Protestanten, groe Teile der Bevölkerung dem Katholizismus erhalten werden konnten, vorausgesetzt, dass sie rechtzeitig unter die Führung von Geistlichen kamen, die im Umkreis der katholischen Reformation ausgebildet worden  waren.

Das Resultat aller Untersuchungen der letzten Jahrzehnte nach den Ursachen des Aufstandes wurde vor kurzem von J.W. Smit gut zusammengefasst in seinem Beitrag zum Band Preconditions of revolution in early modern Europe [6] . Der zentrale Satz in seinem Artikel lautet: Ist die Rolle der politischen und sozialökonomischen Faktoren für das Entstehen der niederländischen Revolution kompliziert und undeutlich, so ist die Bedeutung der ideologischen und religiösen Bedingungen noch viel undeutlicher und komplizierter. Alles ist kompliziert und undeutlich! Hatte Romein also Recht? Hat unser wachsendes Wissen, das Bild nicht nur undeutlicher gemacht? Man könnte es fast meinen, aber trotzdem glaube ich nicht, dass Letzteres stimmt.

Bis jetzt richtete sich die Forschung hauptsächlich auf die Kernländer, also auf Flandern und in geringerem Mae auch auf Brabant und Holland. Die Struktur dieser hochentwickelten Provinzen war äuerst kompliziert, die wirtschaftliche, soziale, die politische und kirchliche Entwicklung war hier stark verflochten und dadurch schwer zu analysieren. Die nordöstlichen Provinzen waren vor allem sozialökonomisch viel einfacher strukturiert und dadurch leichter zu analysieren. Wenn man auf Basis der auf diese Weise neu erworbenen Erkenntnisse die Ereignisse in Flandern und Holland untersucht, überrascht es, dass bestimmte Phänomene nicht früher und nicht mehr Interesse geweckt haben. Es sind hauptsächlich die Phänomene, auf die katholische nord-niederländische Historiker bereits hingewiesen haben, aber die mehr, um einiges mehr Bedeutsamkeit verdienen als bisher.

Rogier und seinem Vorbild folgend J.A. de Kok [7] haben auf die groe Zwischengruppe der zwischen Katholizismus und Protestantismus Schwankenden hingewiesen, die erst Mitte des 17. Jahrhundert gänzlich verschwand. Aus der Sicht des 16. Jahrhunderts, und auch aus der des 20. Jahrhunderts, kann man von diesen Zwischengruppen sprechen, die sich noch entscheiden mussten, aber um die Entwicklungen im 16. Jahrhundert zu verstehen, muss man realisieren, dass dies für die Zeitgenossen noch nicht klar war. Viele haben gehofft, es gäbe eine Möglichkeit, der Entscheidung zwischen Trient und Genf zu entkommen, haben heftig Widerstand gegen dieses für sie entsetzliche Dilemma geleistet, haben alles Mögliche getan, um die Hardliner kalvinistischer und kontra-reformatorischer Prägung im Zaum zu halten. Gerade in dieser Phase des Aufstandes nahm auf der anderen Seite der Nordsee, in England, unter starker Führung von Königin Elisabeth die anglikanische Kirche Form an. Es scheint mir, als ob viele Niederländer im 16. Jahrhundert eine derartige Zwischenlösung vorgezogen und viele eine solche Lösung akzeptabel gefunden hätten. Es kam anders, das bedeutet aber nicht, dass ihre Bemühungen von Anfang an unrealistisch waren.

Noch deutlicher als im Kirchlichen kann man auf politischer Ebene eine Gruppe der Unentschlossenen erkennen. Nuyens hat bereits auf die vielen Katholiken, die nicht spanisch-gesinnt waren, hingewiesen. Ich würde es allerdings noch anders formulieren und die sehr groen Gruppen hervorheben, die einen Kompromiss anstrebten, eventuell innerhalb der Kirche, aber falls dies nicht möglich war und in den südlichen Niederlanden war die Chance dafür bereits 1566 vertan einen Kompromiss zwischen den Kirchen, wie dies in Frankreich versucht wurde. Es brauchte keine Parität zwischen den Religionen zu sein, wenn nur die Minderheit eine Existenzmöglichkeit bekam. Mochten die Geuzen auch dichten,

Helpt de herder die voor u strijdt [Helft dem Hirten, der für euch kämpft]
Of helpt den wolf die u verbijt, [oder helft dem Wolf, der euch unterdrückt]
weest niet meer neutralisten, [seid nicht länger Neutralisten]

waren die Neutralisten, die mit allen möglichen Mitteln einen Kompromiss anstrebten, einen Modus vivendi mit dem intoleranten Philipp II. und seinen niederländischen Gefolgsleuten einerseits, und den Protestanten andererseits, trotzdem anfänglich viel zahlreicher als die beiden Extreme. In den sechziger Jahren blicken viele Historiker eifrig auf den Beginn des Aufstandes, warten sozusagen ungeduldig bis der Kampf endlich losbrandet, aber viele Zeitgenossen und auch Wilhelm von Oranien warteten überhaupt nicht darauf, im Gegenteil, mit groer Sorge sahen sie die Spannungen wachsen und taten alles, was in ihrer Macht stand, um die drohende Polarisation und den drohenden Ausbruch zu verhindern.

In den sechziger und siebziger Jahren des 16. Jahrhunderts haben die beiden Extreme, die Kontra-Reformatoren und die Kalvinisten, einen festen Kurs verfolgt. Wir können sie fast als Konstanten im Kraftfeld betrachten. Obwohl ihre Stärke variierte, blieb die Richtung gleich. Der Gruppen der in religiöser Hinsicht Unentschlossenen haben, jeweils auf ihre Art, nach Versöhnung gestrebt, und sich, wenn dies nicht möglich war, bei der einen oder anderen Partei angeschlossen. Sie formten dadurch die Variable schlechthin. Wollen wir die schnellen Wechsel in den politischen und militärischen Verhältnissen verstehen, müssen wir vor allem diese Variable beachten. Der zentrale Prozess, der zwischen 1565 und 1580 stattgefunden hat, war die Ausschaltung dieser Gruppe der in religiöser Hinsicht Unentschlossenen, denen es nicht gelang, zu einem Kompromiss zu kommen, und die schlielich gezwungen wurden, sich für eines der beiden Extreme zu entscheiden. Nach 1580, nach dem Scheitern der Kölner Friedensverhandlungen und dem Verrat von Rennenberg [8] , hatten diese Gruppen ausgespielt, sie waren politisch fast bedeutungslos geworden und mussten die Herrschaft der Protestanten und Philipps II. anerkennen. Man findet sie nur noch als gemäigten Flügel in einer dieser beiden anderen Parteien. Dennoch hatten die Ideen dieser Gruppe der in religiöser Hinsicht Unentschlossenen insofern bleibenden Einfluss, da sich die Ansichten der beiden Kontrahenten im Laufe dieser kritischen Jahrzehnte ziemlich gemäigt haben. Nach dem Sieg Parmas in den südlichen Niederlanden wurden dort nur noch protestantische Anführer hingerichtet. Nach einiger Zeit wurde die Todesstrafe für Ketzer gänzlich unüblich. In den Regionen, in denen die Kalvinisten offiziell herrschten, verbesserte sich die Lage der Nicht-Kalvinisten mit einigen ups and downs langsam aber sicher.

Parallel zu dieser politischen Ausschaltung der Gruppen der Unentschlossenen findet die Ausschaltung der kirchlichen Gruppe der Unentschlossenen statt. Dieser Prozess verläuft allerdings langsamer und war nicht vor Mitte des 17. Jahrhunderts abgeschlossen. Es sind hier wichtige regionale Unterschiede festzustellen, vor allem in der Entwicklung des Protestantismus. In den hochentwickelten, nahe an das Regierungszentrum angrenzenden Provinzen wie Flandern und Brabant spitzten sich die Gegensätze schon vor 1566 viel mehr zu als anderswo. Innerhalb der katholischen Kirche gab es viel weniger Spielraum als dies irgendwo anders der Fall war. Der Protestantismus hat dort unter den schweren Verfolgungen zu seiner Form gefunden und dadurch hat sich bereits vor 1566 ein deutlicher Kalvinismus herauskristallisiert. Auch nach 1577 hat der Protestantismus hier diese Couleur, auch bleibt es vorläufig problematisch, nicht was den intellektuellen, sondern den emotionellen Inhalt des Protestantismus betrifft, der sich nach der Genter Pazifikation so überraschend stark zeigte.

Nördlich der Flüsse Rhein und Maas bekam der Protestantismus seine anfängliche Form während der relativen Freiheit des Wunderjahres 1566-1567, und der Einfluss des reinen, unvermischten Kalvinismus war viel geringer. Der Protestantismus war dort viel breiter gefächert (oder besser: undeutlicher) und offener. Bald begann allerdings die Verfolgung von Neuem und für viele das Exil. Als 1572, nach einem ziemlich kurzen Exil, die Protestanten in groen Teilen von Holland und Seeland an die Macht kamen, handelte es sich eindeutig um einen ziemlich grozügigen Protestantismus, mit einem ebenso eindeutig relativ groen Kern von überzeugten Kalvinisten, die fest entschlossen waren, die Kirche nach ihren Ideen zu gestalten. Es sollte für die nördlichen und östlichen Provinzen bis nach 1576 dauern für Groningen vielleicht sogar bis 1594 ehe die Protestanten mit dem Aufbau einer Kirche beginnen konnten. Damals war das, zumindest in Friesland und Groningen, hauptsächlich ein Protestantismus der zurückgekehrten Exilanten, ein Protestantismus, der in vielen Fällen im langen Exil zu einem echten Kalvinismus verhärtet und verschärft worden war.

Diese Eliminierung der Gruppen der in religiöser Hinsicht Unentschlossenen scheint mir das Hauptthema, das die Entwicklung von 1565 bis 1580 als einen zusammenhängenden Prozess verständlich macht. Es war jedoch nicht das einzige Thema. Andere Unterschiede und Probleme sorgten für manchmal erhebliche Variationen des allgemeinen Themas der Eliminierung der Gruppe der in religiöser Hinsicht Unentschlossenen. In Flandern spielten 1566 und 1577 soziale Spannungen eine groe Rolle, in Friesland haben 1580 groe Gruppen aus politischen Gründen die ziemlich deutlich kalvinistischen Protestanten unterstützt. Gerade die Gruppen, die das Dilemma Trient Genf vermeiden wollten, sei es, weil sie anderer Auffassung waren, sei es, weil sie sich nicht für kirchliche Angelegenheiten interessierten, gerade diese Gruppen wurden in ihrem Bemühen nach Versöhnung anfänglich und später, als die Entscheidung nicht mehr zu vermeiden war, in ihrer Wahl von allen möglichen nicht-religiösen Überlegungen geführt, von persönlichen, von politischen und mehr oder weniger bewussten sozialen Motiven. Oft hatten die Beweggründe einen negativen Charakter. Sie unterstützten nicht die Partei, von der sie sich am meisten angezogen fühlten, sondern die Gruppe, die sie am wenigsten abstie. Das Problem der religiösen und bald auch der kirchlichen Differenzierung war zentral. Nicht weil jeder von religiösen Beweggründen angetrieben wurde, sondern weil, als alles einmal geklärt war, niemand, und schon gar kein Bürgermeister oder Abgeordneter, dieser Frage ausweichen konnte, egal wie gering seine religiösen Interessen waren.

Manchmal habe ich Verwandte oder Freunde lachend sagen hören, ob die spanische Zeit nicht schon genügend bekannt sei. Ich konnte nur antworten, dass das richtige Studium dieser Zeit erst recht beginne, schrieb Johannes van Vloten 1857. Er meinte damit die Erforschung der reichhaltigen Archivmaterialien, hauptsächlich im Allgemeinen Reichsarchiv in Brüssel. Wir könnten dasselbe jetzt wiederholen, das richtige Studium dieser Zeit fängt erst an, nicht nur, weil das Brüsseler und das übrige Archivmaterial noch immer nicht genügend aufgearbeitet ist, sondern hauptsächlich weil, wenn man die Bedeutung der Gruppe der in religiöser Hinsicht Unentschlossenen einmal erkannt hat, die alten Fragen nach der Wechselbeziehung zwischen der sozialökonomischen Struktur, der kirchlichen und politischen Entwicklung erneut untersucht werden müssen. Es muss untersucht werden, in welchen Kreisen die kontra-reformatorischen Katholiken, traditionellen Katholiken, protestantisierenden Katholiken, Kalvinisten und Mennoniten, den gröten Anklang fanden. Es muss die Wechselbeziehung zwischen dem Streit um das Bestreben nach Zentralisation und Absolutismus untersucht werden, dem Streit um die Privilegien der Städte und Provinzen und die unterschiedlichen kirchlichen Standpunkte, das Streben nach einem Kompromiss oder gerade das Verteidigen eines der extremen Standpunkte. Auch das internationale Kraftfeld verdient Beachtung, nicht nur weil dies für den Verlauf des Aufstandes oft von ausschlaggebender Bedeutung war, sondern auch weil die drei Parteien, die wir grosso modo in den Niederlanden unterscheiden konnten, nichts speziell Niederländisches waren, sondern internationale Strömungen repräsentierten, die in ganz West-Europa vorkamen und sich ihres Zusammenhanges über die Grenzen hinaus sehr wohl bewusst waren.

Die vielen Widersprüche in der Geschichtsschreibung über den Aufstand sind dadurch entstanden, dass diese Gruppen der in religiöser Hinsicht Unentschlossenen nicht ausreichend erkannt wurden und abwechselnd zu der einen oder anderen Partei zugerechnet wurden. Dadurch wurden fallweise auch die Quellen falsch interpretiert. Jede Behauptung, dass jemand katholisch bzw. protestantisch sei, jede Behauptung, dass jemand spanisch-gesinnt bzw. Anhänger des Prinzen [Wilhelm von Oranien] sei, muss anhand der Quellen erneut überprüft werden. Die Chance ist gro, dass sich das Etikett dann als falsch oder halb-richtig herausstellt.

Hat Romein also Unrecht und wird die historische Forschung in Zukunft zu einem befriedigenden Bild gelangen? Es ist zu hoffen, aber damit sind wir mit Romeins Ausführung noch nicht fertig. Wenn man seine Rede sorgfältig liest, stellt sich heraus, dass seine gröte Sorge nicht sosehr die ist, dass das Bild der Vergangenheit zerschmettert ist, sondern dass es so kompliziert geworden ist, dass es nicht mehr inspiriert und keine kulturelle Funktion mehr besitzt. Es ist unleugbar, dass das alte Schwarz-Wei-Bild, das in der Grundschule noch gute Dienste leistete, jetzt nicht mehr aufrechtzuerhalten ist. Ein verantwortliches Bild von der Revolution, welcher der heutige niederländische Staat sein Dasein verdankt, wird ein ziemlich kompliziertes Bild sein, nur verständlich für diejenigen, die bereit sind, sich damit auseinander zu setzen, und für diejenigen, die über abstraktes Denken verfügen. Dies ist schade, aber unvermeidlich. Eine gewisse Vereinfachung des sehr komplexen Prozesses ist möglich, aber unter einem gewissen Niveau das leider sehr hoch ist würde eine Vereinfachung zur Verfälschung führen. Wenn die Geschichtswissenschaft, um breite Massen zu erreichen, unter dieses Niveau sinkt, verliert sie meiner Meinung nach allerdings ihre Funktion.

Das Streben nach Wahrheit, nach Einblick in die Kräfte, die die historische Entwicklung bestimmen, sollte an erster Stelle stehen, will man überhaupt von Geschichtswissenschaft sprechen. Je gröer der Kreis ist, der diese Erkenntnis als eine Bereicherung erfährt, desto besser, aber man darf nie, nur um Interesse zu wecken, ein verzerrtes Bild darstellen.

Auch das komplizierte Bild der modernen Geschichtsschreibung wird viele nicht inspirieren, aber wer ein Auge dafür hat, kann sich sehr wohl auch jetzt von dem Mut inspirieren lassen, mit dem die Märtyrer auf beiden Seiten für ihre Überzeugung gekämpft haben, und vor allem von dem Mut, der Aufopferung, der Ausdauer mit der Wilhelm von Oranien und seine Mitstreiter immer nach Versöhnung gestrebt haben, auch als dies fast aussichtslos zu sein schien.



[1] Jan Romein, In opdracht van de tijd (Amsterdam, 1946), 74-95. [2] Anna Romein-Verschoor, vielfach ausgezeichnete Autorin und Historikerin, war die Ehefrau des berühmten Historikers Jan Romein. (Anmerkung des Übersetzers) [3] Tibor Wittman. Les Geux dans les Bonnes Villes de Flandre, 1577-1584 (Budapest, 1969). Rezension in TvG, 84 (1971), 94-96. [4] BMGN, 83 (1969) 15-32. Siehe auch R. van Uyten, Sociaal-economische evoluties in de Nederlanden vóór de Revoluties (veertiende-zestiende eeuw) BMGN, 87 (1972) 60-93. [5] Neuauflage in P. Geyl, Kernproblemen van onze geschiedenis (Utrecht, 1937) 29-41. [6] Hg. von R. Foster und J.P Greene 1970, erschienen bei John Hopkins University Press. [7] J.A. de Kok, Nederland op de breuklijn Rome-Reformatie (Assen, 1964). [8] Nach dem Scheitern der Kölner Friedensverhandlung, wechselte Graf von Rennenberg (in der Nacht von 2. auf 3. März 1580), unter Einfluss von Landvogt Alexander Farnese, mit Erlaubnis der Bourgeoisie in Groningen auf die spanische Seite. (Anmerkung des Übersetzers).